- menschliches Verhalten im Spannungsfeld von Natur und Kultur
- menschliches Verhalten im Spannungsfeld von Natur und KulturDie Sichtweise der biologischen Verhaltensforschung unterscheidet sich deutlich von kulturistischen Auffassungen des menschlichen Verhaltens, wie sie vor allem in den Sozialwissenschaften entwickelt wurden. Hier geht man häufig davon aus, dass die biologische Grundlage des menschlichen Verhaltens sich auf einige wenige angeborene Ausstattungen (zum Beispiel Reflexe und Primärbedürfnisse) beschränkt, über die alle Menschen verfügen. Die angeborenen Merkmale des Menschen werden als Konstante gesehen. Weil aber eine Konstante, wie die menschliche Natur, keine Vielfalt erklären kann, wie sie im menschlichen Verhalten zutage tritt, scheint der Schluss verführerisch nahe liegend, dass die menschliche Natur keinen nennenswerten Anteil an dem Zustandekommen kultureller oder persönlicher Verhaltensunterschiede haben kann.Was immer Kinder an »Angeborenem« mitbringen, sei nebensächlich und bruchstückhaft, so heißt es, jedenfalls kommen Kinder ohne kulturelle Kompetenzen zur Welt, weshalb sie diese erst von einer Quelle erwerben müssen, die außerhalb ihrer selbst liegt. Die Quelle liegt auf der Hand: Es ist die Gesellschaft, in welche die Kinder hineingeboren werden, mit den jeweils vorherrschenden Verhaltensnormen, Glaubenssystemen, Gruppenstrukturen, Einstellungen und Mentalitäten. Aus dieser Sicht kommt der Mensch als »unbeschriebenes Blatt« (Tabula rasa) zur Welt, und sein ursprünglich inhaltsleeres Gehirn wird erst während der Sozialisation sinnvoll strukturiert. Deshalb scheint der Mensch (fast) unbegrenzt formbar und anpassungsfähig. Die Formel von der Tabula rasa ist neuerdings häufig ersetzt durch die Metapher vom Gehirn des Menschen als eine Art Computer, zwar mit einigen komplizierten Verschaltungen, aber eben doch ohne Programm. Die Programme, die das Verhalten steuern, kommen von außen aus der Gesellschaft.Wenn man menschliches Verhalten verstehen will, scheint es aus diesem Blickwinkel wenig sinnvoll zu sein, die menschliche Natur zu studieren, genauso, wie es wenig Sinn macht, Papier zu studieren, wenn das Wichtige der Text ist, der darauf geschrieben steht. So wird die Rolle der Biologie zum Verständnis menschlichen Verhaltens weit in den Hintergrund gerückt. Schließlich haben wir Menschen während unserer Stammesgeschichte alle »genetisch determinierten Verhaltensweisen« verloren und sie durch allgemeine Kulturfähigkeit auf der Grundlage entwickelter Denkmechanismen ersetzt. Man hat diese Entwicklung auch als Instinktreduktion bezeichnet. »Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung« heißt es bei Johann Gottfried Herder, und in der philosophischen Anthropologie von Arnold Gehlen ist vom »Mängelwesen Mensch« die Rede. Danach endet die Bedeutung der Biologie mit der Entstehung eines inhaltsleeren Gehirns, jener fantastischen Neuentwicklung, mit der sich die biologische Evolution praktisch selbst ausgehebelt zu haben scheint. Die Programmierung dieses Gehirns vollzieht sich erst während der persönlichen Individualentwicklung durch die Gesellschaft und entzieht sich — so wird häufig angenommen — allein schon deshalb jeglicher biologischen Interpretation.Biologen, die der Auffassung sind, dass wir Menschen über stammesgeschichtlich, im Laufe der Evolution entstandene Verhaltenspräferenzen und -mechanismen verfügen, die ganz wesentlich un- ser Verhalten prägen, können mit dieser kulturistischen Interpretation menschlichen Verhaltens allerdings nicht rundherum einverstanden sein. Aus ihrer Sicht sind vor allem drei Grundannahmen dieses soeben vorgestellten Argumentationsstrangs nicht richtig:1) Die empirischen Ergebnisse der Neurowissenschaften und der Kognitionspsychologie sprechen gegen die Annahme, dass wir Menschen mit einem inhaltsleeren Gehirn geboren werden, das in gewisser Weise einem Allzweckcomputer gleicht. Stattdessen werden im Zuge der menschlichen Individualentwicklung, so beim Sehenlernen, Sprechenlernen oder Emotionen-erkennen-Lernen hochgradig spezialisierte neuronale Mechanismen angewendet. Lernen ist ein biologisch detailliert geregelter Vorgang, der in engen Bahnen abläuft. Daher kann der Mensch auch nicht unbegrenzt formbar sein.2) Wenn bestimmte Verhaltensaspekte zwar beim Erwachsenen, nicht aber schon beim Neugeborenen vorhanden sind, schließt das nicht aus, dass sie zur biologischen Ausstattung gehören könnten. Schließlich werden wir auch ohne Zähne und ohne sekundäre Geschlechtsmerkmale geboren. Entsprechendes gilt für das Verhalten: Ob beispielsweise Geschlechtsunterschiede im Verhalten schon bei der Geburt vorhanden sind oder erst später erkennbar werden, ist vollkommen unerheblich bei der Frage, ob diese Unterschiede durch eine unterschiedliche Behandlung der Geschlechter durch die Gesellschaft zustande kommen oder ob es möglicherweise geschlechtstypische Entwicklungsprogramme gibt.3) Vor allem aber ist die Unterscheidung von vermeintlich angeborenen und erworbenen Verhaltensanteilen äußerst irreführend. Gene programmieren Entwicklungsvorgänge. Alle Entwicklungsvorgänge vollziehen sich in einem Wechselspiel zwischen der Erbinformation und ihrer Umgebung. Die Gene definieren dabei lediglich die Reaktionsnorm auf die äußeren Entwicklungsbedingungen. Die Umwelt entscheidet deshalb mit darüber (und meistens in nicht unerheblichem Umfang), zu welchen Ergebnissen die genetisch programmierten Entwicklungsabläufe führen. Der Phänotyp ist demnach eine Manifestation seines Genotyps in einem ganz bestimmten Entwicklungszusammenhang.Deshalb macht es auch absolut keinen Sinn, Verhaltensmerkmale als angeboren oder erworben unterscheiden zu wollen. Bestenfalls lässt sich ihre Stellung in einem Kontinuum zwischen »relativ stabil« und »relativ sensibel« gegenüber unterschiedlichen Umwelteinflüssen bestimmen. Der Unterschied zwischen zwei Löwenzahnpflanzen beispielsweise, die aufgrund unterschiedlicher Standorte unterschiedlich gedeihen, ist natürlich umweltabhängig und in diesem Sinne »erworben«. Er ist aber zugleich auch »angeboren«, denn die genetischen Programme des Löwenzahns geben vor, wie die sich entwickelnde Pflanze auf jeweils unterschiedliche Standortbedingungen reagieren soll. In einem solchen Programm könnte etwa die (biologisch äußerst zweckmäßige) Devise codiert sein, auf einem feuchten, schattigen Standort große, kräftige Blätter zu entwickeln, auf einem trockenen, sonnigen Standort hingegen eher kleinere Blätter.Wegen der grundsätzlichen Wechselwirkung zwischen Gen und Umwelt in der Verhaltensentwicklung kann es weder einen »genetischen Determinismus« noch einen »Umweltdeterminismus« geben. Daher ist der Versuch, das Verhalten in seine »angeborenen« und »erworbenen« Elemente aufzuteilen, auch zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.Kein Lebewesen reagiert auf ausnahmslos alle Aspekte seiner Umgebung. Die genetischen Entwicklungsprogramme reagieren nur auf bestimmte Umwelteigenschaften. Im Verlauf der Stammesgeschichte hat sich im zielblinden Versuch-und-Irrtum-Spiel der Evolution herausgestellt, welche Eigenheiten der Umwelt nützliche Informationen für eine erfolgreiche Individualentwicklung beinhalten und welche nicht. Deshalb kann die Selektivität der Beziehung zwischen Gen und Umwelt ihrerseits als Ergebnis der biologischen Evolution aufgefasst werden. Die Umweltsensibilität eines Organismus, also die Frage, von welchen Umwelteigenschaften er sich in seiner Entwicklung wie beeinflussen lässt, ist so gesehen genauso Produkt des evolutionären Erbes wie der Informationsgehalt der Gene selbst. Die Abhängigkeit der menschlichen Verhaltensentwicklung von den jeweils vorherrschenden kulturellen Bedingungen kann deshalb selbst als eine evolutionäre Ausstattung des Homo sapiens gelten.Um menschliches Verhalten zu verstehen, ist es zunächst notwendig, ein wenig den Aspekt der doppelten Abhängigkeit des Menschen durch Natur und Kultur zu erläutern. Daher ist zu klären, wie aus dem biologischen Evolutionsgeschehen die typisch menschlichen Verhaltensweisen (einschließlich aller ihrer kulturellen Differenzierungen) hervorgegangen sein könnten und welche Rolle das Erbmaterial (die Gene) einerseits und die Umweltbedingungen andererseits dabei wohl gespielt haben.Zweck und MechanismusWie die biologische Evolution abläuft, wurde erstmals von dem englischen Naturforscher Charles Darwin in den Grundzügen verstanden. Seine Vorstellungen von der Evolution der Lebenswelt durch natürliche Selektion sind nicht nur bis heute gültig, sondern haben mit dem Zuwachs an biologischem Wissen (insbesondere über die Vererbungsmechanismen und die ökologischen Zusammenhänge) zudem einige wichtige und das Erklärungsvermögen der Theorie weiter verbessernde Ergänzungen erfahren.Die Prinzipien der Selektion und AnpassungDie Funktionslogik von Darwins Prinzip der Selektion und Anpassung gründet auf nur drei charakteristischen Systemeigenschaften der Lebenswelt: erstens auf einer grundsätzlichen Begrenztheit von Fortpflanzungsmöglichkeiten, zweitens der Verschiedenartigkeit von Individuen und drittens der genetischen Vererbung. Obwohl zwar jede Population über ein unbegrenztes Vermehrungspotenzial verfügt, ist doch aus leicht einsehbaren Gründen auf Dauer kein unbegrenztes Populationswachstum möglich. Die für Vermehrung notwendigen Ressourcen (wie zum Beispiel Nahrung, Brutplätze, Geschlechtspartner, elterliche Fürsorge und soziale Unterstützung) sind schließlich nicht beliebig verfügbar und stecken damit Expansionsgrenzen ab. Es werden immer mehr Nachkommen gezeugt, als sich ihrerseits erfolgreich fortpflanzen können. Das führt zu Konkurrenz um den Zugang und die Nutzung der jeweils begrenzenden Ressourcen. Einige Individuen können aufgrund ihrer Merkmale und Eigenschaften die Ressourcen besser erschließen und sie effektiver in persönliche Reproduktion umsetzen als andere, sodass der relative Anteil des Erbmaterials dieser überdurchschnittlich erfolgreichen Individuen im Genpool ihrer Population automatisch zunimmt. Besteht der unterschiedliche Reproduktionserfolg der Individuen zumindest zu einem Teil auf genetischen Unterschieden, verschieben sich die Genfrequenzen, und evolutiver Wandel — das heißt genetische Anpassung — findet statt. Diejenige Erbinformation, deren Trägerindividuen für sich die Wachstumsgrenzen am weitesten hinausschieben können, das heißt die besseren Selektionseigenschaften besitzen, also am effektivsten Nahrung beschaffen, Raubfeinden entgehen, Parasiten trotzen, sozialer Konkurrenz standhalten, Geschlechtspartner werben und Nachkommen großziehen, ist mit der Zeit zunehmend in der Population vertreten und an der Herausbildung der anatomischen, physiologischen und psychologischen Merkmale ihrer Mitglieder beteiligt.Für die biologische Verhaltensforschung ist nun die Einsicht äußerst wichtig, dass zwar die natürliche Selektion an den Unterschieden zwischen den individuellen Merkmalsträgern (den Phänotypen) ansetzt, die Ebene biologischer Anpassungsvorgänge aber nur die der Erbinformation sein kann und nicht etwa die der Individuen oder gar der Populationen oder Arten. Nur in den Genen (den Replikatoren der Erbinformation) ist stammesgeschichtliche Erfahrung Generationen überdauernd gespeichert. Ihre potenzielle Unsterblichkeit begründet die Kontinuität des Lebens, während die einzelnen Individuen endlich und kurzlebig sind. Die vergänglichen »Überlebensmaschinen« dienen stattdessen dem evolutiv einzigen Zweck, als »Vehikel« ein optimales Medium für eine erfolgreiche identische Vermehrung (Replikation) des Genmaterials zu liefern. Damit stellt sich die biologische Evolution als ein genzentriertes Prinzip dar, ein Umstand, der zu der populären, aber leider missverständlichen Diktion vom »egoistischen Gen« geführt hat. Gemeint ist damit das Prinzip, nach dem individuelles Verhalten im Evolutionsprozess selektioniert wird, also letztlich »genetischer Eigennutz«, wobei »Eigennutz« freilich nicht auf das handelnde Individuum, sondern auf seine genetischen Programme zu beziehen ist.Das Prinzip der VerwandtenselektionWeil die biologische Evolution ein genzentriertes Prinzip ist, reicht der persönliche Reproduktionserfolg bei der Beurteilung der genetischen Fitness nicht aus, da die Gene eines Individuums durch die gemeinsame Abstammung auch zum Erbgut seiner Verwandten gehören. Identische Replikate der Erbprogramme eines Individuums beispielsweise stecken mit bestimmbarer statistischer Wahrscheinlichkeit auch noch in den Eltern, Geschwistern, Kindern, Neffen und Nichten oder Vettern und Basen. Das Evolutionsgeschehen bekräftigt demnach konsequenterweise nicht nur die Eigenschaften, die die Fortpflanzung von Einzelindividuen begünstigen, sondern vor allem jene Eigenschaften, die den jeweils nächsten Verwandten zu höherem Reproduktionserfolg verhelfen. Eine ganz zwangsläufige Folge dieses von den Fachleuten als Verwandtenselektion bezeichnete Prinzip ist die unter allen höher entwickelten sozial lebenden Organismen anzutreffende und nach Verwandtschaftsnähe differenziert abgestufte Verwandtenunterstützung (Nepotismus). Es ist daher evolutionsbiologisch ausgesprochen plausibel, dass menschliche Gesellschaften — überall auf unserem Globus — auf nepotistischen Verwandtschaftssystemen beruhen und eine abgestufte Verwandtschaftsnähe eine zentrale Rolle für die Art und Intensität des sozialen Miteinanders spielt.Verwandtenunterstützung konnte entstehen, weil die Kontoinhaber genetischer Fitness die Erbprogramme sind und nicht etwa die Individuen, Gruppen oder gar Arten, wie man früher vermutet hatte. Der Erfolg in der natürlichen Selektion bemisst sich deshalb nach der Gesamtfitness. Dazu zählt neben dem direkten Erfolg bei der Reproduktion durch Replikation des eigenen Erbguts (die direkte Fitness, auch darwinsche Fitness genannt) auch der indirekte Erfolg bei der Reproduktion, der durch Unterstützung der genealogischen Verwandten bei deren Fortpflanzung erreicht werden kann (indirekte Fitness).Durch die natürliche Selektion wird jedoch nur die im Individualleben erreichte Gesamtfitness bewertet, sodass im Laufe der Evolution zwangsläufig alle Lebewesen darauf eingerichtet wurden, genau diese Größe zu maximieren. Reproduktive Gesamtfitnessmaximierung ist das Lebensprinzip, auf das alle Organismen von Natur aus eingestellt sind und aus dem sich die Lebensinteressen der Lebewesen ableiten. Man kann deshalb gut begründet erwarten, dass unsere entwickelten Verhaltenspräferenzen, unsere Mechanismen der Verhaltenssteuerung und unsere (häufig unbewussten) Verhaltensstrategien als Produkte der biologischen Evolution eine klar zu umreißende Funktion erfüllen: Sie gehorchen im Durchschnitt dem biologischen Imperativ nach bestmöglicher Selbsterhaltung und Fortpflanzung, anderenfalls hätten sie die ständige Prüfung durch die natürliche Selektion nicht bestehen können.Ultimate und proximate Gründe des VerhaltensDamit ist ein erster Blickwinkel umrissen, aus dem heraus Antworten auf die Frage, warum sich Menschen so verhalten, wie sie es tun, erwartet werden können. Es ist der Blickwinkel, der nach dem biologischen Zweck des menschlichen Verhaltens fragt, und somit auf die ultimaten Gründe des Verhaltens abstellt. Es ist zugleich die Frage nach der biologischen Funktion, nach dem Anpassungswert von menschlichen Verhaltensäußerungen und -unterschieden in verschiedenen historischen und kulturellen Milieus.Allerdings stellt die Suche nach den ultimaten Zweckursachen menschlichen Verhaltens nur eine von mehreren Möglichkeiten dar, Verhaltensforschung zu betreiben. Man kann genauso berechtigt nach den proximaten Gründen fragen, die für unsere Verhaltensäußerungen verantwortlich sind. Hierunter fallen alle psychischen, physiologischen und kulturellen Wirkmechanismen, die auf unser Verhalten in einer bestimmten Weise Einfluss nehmen.Die unterschiedliche Ausrichtung dieser beiden Suchbilder und ihre jeweils unterschiedlichen Erkenntnisinteressen können an einem einfachen Fall verdeutlicht werden: Die Frauen der Kalahari-Buschleute, einer Wildbeutergesellschaft im südwestlichen Afrika, bekommen im Durchschnitt etwa alle 48 Monate ein Baby. Auf die Frage, warum das eigentlich so ist, lässt sich mit dem Hinweis antworten, dass die Mütter ihre Kinder ausgesprochen lange und regelmäßig stillen, was bekanntlich die Wiederaufnahme des Menstruationszyklus nach der Geburt hinauszögert. Außerdem befolgen die Frauen nach einer Niederkunft traditionelle Sexualtabus, was ebenfalls zur Verzögerung einer nachfolgenden Schwangerschaft beiträgt, sodass nicht nur physiologische, sondern auch kulturelle Mechanismen für die Einhaltung der vergleichsweise langen Zwischengeburtenabstände sorgen.Mit diesen Antworten ist allerdings nur die Ebene der proxima- ten Wirkursachen angesprochen. Die Antwort auf die Frage nach den ultimaten Zweckursachen für die langen Geburtenabstände ist damit noch nicht gegeben. Dazu müsste man erst den biologischen Anpassungswert, das heißt die Funktion dieses Verhaltens im persönlichen Bemühen um genetische Fitnessmaximierung kennen. Nun konnte man zeigen, dass angesichts des unwirtlichen Lebensraums der Kalahari-Buschleute der 48-monatige Abstand zwischen den Geburten das Optimum für die Frauen bildet, um den größtmöglichen persönlichen Lebensreproduktionserfolg zu erzielen. Wer den Abstand verringert, bekommt folgerichtig zwar mehr Kinder, vermag aber nur weniger Kinder bis ins Erwachsenenalter großzuziehen.Was auf den ersten Blick wie eine Geburtenbeschränkung aussieht, die im Widerspruch zu allen genetischen Prinzipien der Fitnessmaximierung zu stehen scheint, entpuppt sich bei genauerer Analyse als eine an die lokalen Verhältnisse angepasste strategische Maßnahme, die persönliche genetische Fitness maximal zu erhöhen und damit dem biologischen Imperativ zu gehorchen. Aus der Sicht des egoistischen Gens haben die Frauen die beste aller ihnen verfügbaren Möglichkeiten gewählt. In diesem Hinweis auf den biologischen Anpassungswert des Verhaltens steckt ebenfalls eine Antwort auf die Frage, warum die Kalahari-Frauen im Durchschnitt einen 48-monatigen Geburtenabstand eingehalten haben.Anhand dieses Beispiels werden zwei Dinge deutlich. Kulturell und gesellschaftlich gesteuertes Verhalten kann biologisch ausgesprochen funktional sein, wodurch kulturelle Verhaltensmuster vor dem Hintergrund des biologischen Anpassungskonzepts interpretierbar werden. Außerdem müssen ultimate und proximate Fragen nach dem Warum an das Verhalten überhaupt nicht zu sich widersprechenden Antworten führen, da sich ihre Suchbilder ganz grundsätzlich voneinander unterscheiden. Eine aussagekräftige Verhaltensforschung muss freilich beide Perspektiven im Auge behalten.Neben diesen beiden Aspekten wird an dem Beispiel der Kalahari-Buschleute ein zusätzlicher Aspekt deutlich: Begriffe wie Angepasstheit, optimal oder maximale Fitness, die im Sprachgebrauch der Verhaltensforscher eine große Rolle spielen, können vernünftigerweise immer nur unter Bezug auf die jeweils vorherrschenden Lebensbedingungen sinnvoll verwendet werden. Was für die Buschfrauen in der Kalahari angepasst und optimal ist, kann unter ganz andersartigen Lebensbedingungen unangepasst und nicht optimal sein. Es gibt viele Möglichkeiten, den Lebensreproduktionserfolg zu erhöhen. Eltern erreichen das über eine Maximierung der Geburtenzahl (wie es in vielen Agrargesellschaften beobachtet wird), oder durch eine Maximierung der Überlebenschancen der Kinder (wie es typisch für Wildbeutergesellschaften ist), oder über eine Maximierung der sozialen Konkurrenzfähigkeit ihrer Kinder durch Erziehung und Vererbung (wie es in den Industriegesellschaften zu beobachten ist). Keine dieser drei Strategien ist gemessen am biologischen Erfolg den anderen absolut überlegen. Vielmehr entscheiden die ökologischen und soziokulturellen Lebensbedingungen über die relative Tauglichkeit der verschiedenen Strategien in ihrem jeweiligen Kontext. Aussagen über Funktion und Zweckdienlichkeit von Verhaltensweisen sind deshalb zuverlässig nur unter Beachtung des Lebensmilieus, in dem sich das infrage stehende Verhalten entwickelt, möglich.Altes ErbeDie biologische Verhaltensforschung an Menschen steht vor einem grundsätzlichen Problem. Es erwächst aus der Tatsache, dass die ökologische und soziokulturelle Umwelt, in dem sich die biologische Menschwerdung mit den sie kennzeichnenden Anpassungsvorgängen abgespielt hat, nicht identisch ist mit den modernen oder historisch noch halbwegs überschaubaren Lebensbedingungen der Menschheit. Weil im Gegensatz dazu von vielen (wenngleich keineswegs allen) Tierpopulationen mehr oder weniger begründet angenommen werden kann, dass sie in einer »ursprünglichen« Umgebung mit über längere Zeit eher wenig veränderten Bedingungen leben, muss kaum diskutiert werden, woran eine Angepasstheit zu erkennen ist. Fitnessunterschiede zeigen an, auf welchen Verhaltensweisen ein wie hoher Selektionsdruck liegt, und man kann gut begründet annehmen, dass die Verhaltensmerkmale, die zu einer überdurchschnittlichen Fitness führen, sich genau deshalb im Laufe der Evolution entwickelt haben. Fitnesssteigerndes Verhalten wird deshalb kurzerhand als biologisch angepasst betrachtet und seine Entstehung der natürlichen Selektion zugeschrieben.In Anbetracht der Kulturgeschichte liegen die Verhältnisse beim Menschen vielschichtiger. Denkbar wäre, dass durch die rasanten und sich zunehmend verselbstständigenden Kulturentwicklungen genetisch angepasste Verhaltensmechanismen ihre biologische Funktionen verlieren, da sie in den neuartigen, nachsteinzeitlichen Umwelten der Geschichte und Gegenwart nicht mehr fitnesssteigernd wirken. Umgekehrt ist es vorstellbar, dass Merkmale aus solchen Gründen die persönliche Fitness steigern, wegen derer sie nicht im Laufe der Evolution entstanden. Eine biologische Angepasstheit ist durch die Art und Weise ihrer Entstehung, also durch ihre evolutionäre Geschichte definiert und nicht etwa durch ihre aktuelle Zweckdienlichkeit. So könnte eine Diskrepanz zwischen beidem entstehen, die es erschwert, die evolvierten Ursprünge menschlichen Verhaltens zu erkennen. Beispielsweise führt unsere Vorliebe für Süßes unter den heutigen Bedingungen des Zuckerüberflusses bekanntlich zu Gesundheitsschäden, ist also heutzutage nicht fitnesssteigernd. Sie ist aber eine in einer kohlenhydratarmen Umwelt entstandene biologische Angepasstheit, die unseren steinzeitlichen Vorfahren dabei half, ihren Energiehaushalt zu optimieren.Die evolvierten Verhaltenspräferenzen und -mechanismen liefern nur insoweit biologisch funktionale Ergebnisse, wie die Umwelt, in der sie wirksam werden, identisch ist mit der Umwelt, in der sie stammesgeschichtlich entstanden sind. Mit gewissen Verhaltenstendenzen verhält es sich deshalb ähnlich wie mit den Gliedmaßenrudimenten von Riesenschlangen: Beides trägt unter den gegenwärtigen Lebensumständen nicht mehr zur Fitnessmaximierung bei, ist jedoch ein schlagender Beweis für die Richtigkeit der Evolutionstheorie. Streng genommen haben alle Organismen überholte Merkmale, da die Umwelt, in der ein Organismus heute lebt, nie vollkommen jener Umwelt gleicht, in der sich seine Merkmale entwickelt haben.Dieser Gesichtspunkt ist — gerade wenn es um menschliches Verhalten geht — besonders zu beachten. Unsere Verhaltenstendenzen sind in einer früheren Umwelt, der pleistozänen »Umwelt evolutionärer Angepasstheit« (Environment of Evolutionary Adaptedness) entstanden, in der sich zwar rund 99,5 Prozent der menschlichen Geschichte abgespielt hat, von deren befriedigendem Verständnis wir aber wegen der schwierigen Rekonstruktion dieser Zeit zugegebenermaßen noch weit entfernt sind. Seit der neolithischen Revolution mit der Entwicklung von Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht, also seit rund 10 000 Jahren, hat sich hingegen das genetische »Make-up« der Menschheit kaum mehr verändert. Deshalb ist die Verhaltenssteuerung der modernen Menschen im Kern steinzeitlich. »Steinzeitgene« in der Industriegesellschaft — das muss zwangsläufig zu Verwerfungen führen, was aber nichts an den biologischen Ursprüngen menschlicher Verhaltensregulation ändert.Evolutionsbiologische Theorien menschlichen Verhaltens stehen immer wieder im Verdacht, düsteren Ideologien zu dienen. Diejenigen, die soziale, ethnische oder geschlechtliche Ungleichheit als naturgegebenen und gottgewollten Fixpunkt eines auf »Auslese« gegründeten Gesellschaftsentwurfs betrachten, zeigen eine leicht durchschaubare Affinität zu vermeintlich naturalistischen Ideen. Andererseits benutzen diejenigen mit eher emanzipatorisch egalitären Vorstellungen über das wünschenswerte Miteinander den Rückgriff verquerer Ideologen auf »biologischen Fakten« dazu, Soziobiologie als eine Quelle weltanschaulichen Übels darzustellen.Die philosophisch-weltanschaulichen Wurzeln dieser schwierigen Situation der Humansoziobiologie, falschem Beifall wie falschen Anwürfen ausgesetzt zu sein, liegen sicherlich in dem auf den englischen Sozialphilosophen Herbert Spencer zurückgehenden Sozialdarwinismus. Das »Überleben des Tüchtigsten« (»survival of the fittest«) galt ihm als die treibende Kraft der Menschheitsentwicklung von »primitiven Urformen« zu »höheren Stufen« der Zivilisation. Der natürliche »Kampf ums Dasein« wurde als nützlich und wünschenswert erachtet, der wegen seiner segensreichen Wirkung auf den gesellschaftlichen Fortschritt nicht durch staatliches Eingreifen, etwa durch übertriebene Wohlfahrtsmaßnahmen, behindert werden dürfe. »Der Darwinismus wurde in dem Moment zum Steinbruch von Moral und Ideologie«, so drückt es der Anthropologe Volker Sommer aus, »als die Spenceristen und Sozialdarwinisten aus dem »survival of the fittest« unbendenklich ein »survival of the best« machten«.Innerhalb und außerhalb der Fachwelt herrscht zuweilen die philosophisch nicht zu begründende Vorstellung vor, man könne mittels einer wissenschaftlichen Naturbeobachtung die »richtigen« Prinzipien und sittlichen Normen menschlichen Zusammenlebens ermitteln. Einige Verhaltensforscher sehen ihr wissenschaftliches Wirken gerade unter dem Primat der Normfindung, indem sie Erkenntnisse aus dem Bereich des Faktischen in den Bereich des Normativen überführen möchten, umso eine moralische Bewertung menschlichen Verhaltens vor dem Hintergrund biologischen Wissens vornehmen zu können. Sie leisten damit einem normativen Biologismus vorschub, dessen Wertefindung mit einer verführerisch einfachen Formel gelingen soll: Biologisch angepasstes Verhalten ist gut, richtig, wünschenswert, gesund und normal. Demgegenüber brechen viele Soziobiologen ganz konsequent mit der Tradition »naturalistischer Fehlschlüsse«, in der Überzeugung, von den Ist-Zuständen der Natur unmöglich auf das Soll menschlicher Ethik schließen zu können. Für sie gilt uneingeschränkt: Erklären ist nicht gleich Rechtfertigen.Prof. Dr. Eckard VolandWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Mensch: Auf der Suche nach den Ursprüngen des typisch MenschlichenBarash, David P.: Soziobiologie und Verhalten. Aus dem Amerikanischen. Berlin u. a. 1980.Barash, David P.: The hare and the tortoise. Culture, biology, and human nature. New York 1986.Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München u. a. 41997.Harris, Marvin: Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main u. a. 1989.Die Herausforderung der Evolutionsbiologie, herausgegeben von Heinrich Meier. München u. a. 31992.Heschl, Adolf: Das intelligente Genom. Über die Entstehung des menschlichen Geistes durch Mutation und Selektion. Berlin u. a. 1998.Krebs, John R. / Davies, Nicholas B.: Einführung in die Verhaltensökologie. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 31996.Mayr, Ernst: ... und Darwin hat doch recht. Charles Darwin, seine Lehre und die moderne Evolutionsbiologie. Aus dem Englischen. München u. a. 21995.McFarland, David: Biologie des Verhaltens. Aus dem Englischen. Weinheim 1989.Natur und Geschichte, herausgegeben von Hubert Markl. München u. a. 1983.Öko-Ethologie, herausgegeben von John R. Krebs u. a. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1981.Psychobiologie. Grundlagen des Verhaltens, herausgegeben von Klaus Immelmann u. a. Stuttgart u. a. 1988.Voland, Eckart: Grundriß der Soziobiologie. Stuttgart u. a. 1993.Wuketits, Franz M.: Die Entdeckung des Verhaltens. Eine Geschichte der Verhaltensforschung. Darmstadt 1995.
Universal-Lexikon. 2012.